Beschreibung
Biéler wurde 1863 als Sohn einer wohlhabenden Familie in Rolle geboren. Als 17-Jähriger begab er sich auf den Rat des Malers François Bocion nach Paris, um an der Ecole des Beaux-Arts zu studieren. Er schwankte zu diesem Zeitpunkt in seiner künstlerischen Orientierung zwischen Impressionismus und Jugendstil. 1884 entdeckte er die ländliche Kultur von Savièse und verliess 1900 Paris, um sich in dieser Walliser Gemeinde niederzulassen, in der sich eine als «Schule von Savièse» bezeichnete Gruppe von Künstlerinnen und Künstler gebildet hatte. Die abgelegene Gegend und ihre Bewohner inspirierten den Künstler zu einer grossen Zahl von Genrebildern, Porträts und Landschaften, die als wichtige Zeugnisse für traditionelle Lebensformen in der Schweiz zur Zeit der Industrialisierung gelten. Biéler realisierte auch grosse dekorative Arbeiten: Glasmalereien für Kirchen, Wandmalereien oder Mosaiken für das Musée Jenisch in Vevey oder für das Theater in Bern. Biéler, dem seine Zeitgenossen das Fehlen eines persönlichen Stils und eine konservative Kunstauffassung vorwarfen, wurde gleichwohl aufgrund seiner durch den Jugendstil geprägten Werke sowohl beim grossen Publikum als auch bei Sammlern geschätzt. Er arbeitete bis zu seinem Tod im Jahr 1948 in Lausanne an grossen Dekorationsprojekten.
Bei einem kurzen Aufenthalt in Thun malte Biéler 1895 diesen Simmentaler Stier in der einfachen Umgebung eines Stalls. An der Inschrift am oberen linken Bildrand ist zu erkennen, dass dieser Stier mit dem Namen Victor an der Landwirtschaftsausstellung in Bern als «Nummer 62» in der «Klasse Ib» präsentiert wurde. Das im Profil dargestellte Tier mit seiner mächtigen, muskulösen Statur strahlt eine starke Präsenz aus und scheint den Blickkontakt mit dem Maler und somit mit den Betrachtenden zu suchen. Kurz nach seiner endgültigen Rückkehr in die Schweiz durchreiste Biéler die deutsch- und französischsprachige Schweiz auf der Suche nach typisch schweizerischen Motiven. Seine Bilder zeigten hauptsächlich Bauernfamilien, Berge und Tiere. Biélers Versuch einer Definition der Schweizer Kunst stützt sich auf eine Idealisierung der ländlichen Welt und der Natur. Das Bild wurde in seinem Entstehungsjahr von der Schweizerischen Eidgenossenschaft gekauft.
2022/Ingrid Dubach-Lemainque//Übersetzung: Philippe Moser
Provenienz
Ernest Biéler, Savièse/VS (1895); Confédération suisse.
Source: Archives des Collections d'art de la Confédération, Berne